Man hat die psychologischen Projektionen schlecht behandelt, sie mit einem ’nur‘ versehen. Das ’nur‘ ist ein sprachlicher Beschwichtigungsversuch oder Ausdruck einer Enttäuschung. Das Nur einer Projektion reduziert sie auf ein Weniges, auf ein Lediglich, auf ein schmerzhaft bewußtes Fehlen des Eigentlichen, das demnach nicht Projektion sein darf, also nicht überspringt und nicht woanders sich zeigen kann. Was ist also schlimm an Projektionen? Werfen wir nicht dauernd mit Wünschen um uns und heften Sehnsüchte an vermeintlich Unerreichbares. Geraten nicht unsere Geliebten in Phantasien der Erfüllung und des hellen Glücks, fast unversehens. Projektionen auch der vielen Ängste und des Zauderns und des Zagens, daher doch die Filme, an denen die Augen ich mir ausgesehen habe während dieses legendären Stillstands, den wir verdient haben als Leugner einer Projektion.
Bildlich verschweigen
Ich muß nun schon dauernd selber grinsen, wenn ich mir in Spiegeln oder Fenstern bildlich begegne. Ich sehe nun vieles. Es zu schreiben hieße mich offenbaren. Nur zu! locken die gebildeten Krähen. Wir fräßen dich auch ohne Illusion. Sie haben ein Auge auf mich geworfen, was doch ein ganz anderes meint. Seit etlichen Jahren sind sie mir eher unheimlich noch als erstaunlich. In den Spiegeln forsche ich und frage nach, was möglich ist. Alles! sagen oder lügen die Fensterspiegelbilder.
Über Bedeutungen sprechen
Seit ich in dieser größeren Stadt lebe, begegnen mir Geistermenschen.
Einst war es Ahmed, ein Schnorrer. Dickbäuchig stand er in Hauseingängen und erwartete mein Kommen. Zwei Euro lieh ich ihm, obwohl ich selbst nichts hatte. Das war auf dem Kottbusser Damm. Ein zweites Mal gab ich ihm fünf. Du bekommst es morgen zurück. Bei unserer dritten Begegnung kam ich ihm zuvor und fragte, bevor er mich fragen konnte, ob er mir fünf Euro leihen könne, ich sei in Not. Tut mir leid, Bruder, sagte er. Nächstes Mal kann ich dir helfen, ich bin sicher. Seitdem haben wir uns nicht mehr gesehen. Möge es ihm gut gehen.
Seit ein paar Jahren, es begann vor der Virus-Zeit, ist es eine Frau unter schwarzem Schleier, die stark geschminkt ist und viele Leute kennt. Ich sah sie auf der Straße jeden zweiten, dritten oder fünften Tag. Wir haben nicht gesprochen, sie kennt mich nicht. Ich kenne sie ebenfalls nicht. Ich erkenne sie nur wieder und spüre eine Kraft, von der ich gar nichts weiß. Nichts ist böse daran, eher dunkel und verlockend.
Ich habe die Geistermenschen seit langem nicht gesehen. Fast fürchte ich, daß es Unheil bringt, über sie zu sprechen. Dennoch möchte ich sie in die Wortwelt lassen, ihnen Geltung verschaffen, sie damit ehren. Den Schnorrer, der mir Glück brachte. Die dunkle Schönheit, die mich schützte. Nichts von dem werden sie wissen oder wollen, würden sie befragt.
Schwarzes Gold
(Letzte Woche das Gespräch mit dem Kohlenträger. Seit 1978 schleppt er den Leuten die Heizkohle ans Haus, ins Haus, in den Keller. Dieses Jahr ist Schluß.) Was im letzten Jahr passiert ist, hat es noch nie gegeben. Wir hatten keine Kohle, wirklich nicht. Nichts zu machen. Wenn wir was kriegten, bekamen das die Stammkunden, aber nicht mehr als eine Tonne. Da gab es welche, die sagten, bring mir zwei, ich gebe hundert Euro dazu. Du kannst mir auch fünfhundert geben, du bekommst nur eine Tonne. Andere brauchen auch was und wollen es warm haben. Alle Kohle aus der Niederlausitz geht ins Kraftwerk zur Verstromung, wegen Putin. Was wir kriegen, kannst du an ein paar Fingern abzählen. Wenn du bei uns anrufst, kommst du auf die Warteliste. Mehr können wir nicht tun. Ein bißchen Glück brauchst du auch. Früher dreihundert pro Tonne, vor dem Krieg. Zwischendrin tausend. Jetzt vierhundertneunzig, Ende der Fahnenstange. Sommerpreise. (So habe ich es verstanden. Bevor er mit mir sprach, stapelte er ein paar 25-kg-Bündel um. Er faßte sie an, als seien es Stoffbündel. Fast ohne Mühe – wie es nur ein Künstler kann.)
Auf der Weide hinterm Stall
Als sei ich ein Schwein an der Suhle, hätte mich darin gewälzt, in der Sonne gestanden und gewartet. Endlich trocknet die Schlammkruste und fällt in Platten, Brocken und kleineren Stücken von mir ab. Wie leicht es sich läuft, wie beweglich man ist. Nichts mehr zusätzlich tragen zu müssen. Auch den anderen Schweinen geht es gut, einige mampfen, andere dösen im Schatten der Eichen.
Kann man sich denken
„All my favorite people are broken“ – ein erschütternder Vers. Halb sind sie Heilige, halb sind sie Sünder. Nichts Neues unter der alten Sonne, doch ergreifend dargeboten. Ich habe Angebrochen als Überschrift gewählt, weil ich mich eines Interviews mit Leonard Cohen erinnerte, in dem er sinngemäß sagte, daß dieses Gebrochen-, aber nicht Zerbrochensein den Künstler ausmacht. Falls ich mich gut erinnere und nicht hinzudichte, hielt er solche Lebensverletzung für grundlegend, um überhaupt Kunstwerke zu schaffen. Mit Menschen, die nicht gelitten haben, läßt sich kaum sprechen. Warum ist das so? Sie müßten doch die Intaktesten sein, sie könnten doch der Rejustierung oder Rekalibrierung dienen.
Es ist, wie es ist
Nachts gewittern die Gedanken. Sie geraten aneinander und sprühen Funken. Spannungen haben sich aufgebaut und müssen sich entladen. Da geht es Schlag auf Schlag. Donnergrollende Stunden. Meinungen blitzen auf. Später kehrt Ruhe ein. Es ist, wie es ist. Doch wie ist es wirklich. Das Suchen geht weiter. In mir brüllen Zeitgenossen und Vorfahren um die Wette, Bürger und Bauer rangeln was aus. Von weiter oben nimmt sich das putzig aus, vermag auch zu unterhalten. Niveau und Abstand halten, keine blutige Nase holen, auf den Schweißgeruch der Arena verzichten. Du immer mit deinen Kämpfen, sagte Karsten oder Carsten; er war Gast im Café, ich stellte ihm den Kaffee hin; er zeichnete in sein Skizzenbuch und rauchte Pfeife, kam aus Norddeutschland. Was er skizzierte, sah gut aus. Gegenständliches.
Angebrochen
So war es
Es gab Bluttee. Gähnend schrieb ich das auf. Die Hähne schrien vor der Zeit, es kostete sie den Kopf. In den Girlanden hingen die Augäpfel der verlorenen Generation. Lesen und schreiben mußten neu gelernt werden. Mir war aufgegeben, nicht zu verzweifeln. Ich trank Bluttee und fühlte mich wacker.
Das ist mein Gebet
Tanz in den Mai war ganz und gar unmöglich. Also mag es den Tanz aus dem Mai geben. Mein Vater erklärt mir, was ein Kotzbrocken ist. Er benutzt das Wort nicht, weil er vornehmer ist als ich. Ich kann sogar Fickopfer sagen, ohne mit der Winper zu zucken. Das Wort stammt nicht von mir, sondern von der Kampfhubschrauberpilotin auf einem Apache, Boeing AH-64. Nichts schockt mich, außer es schockt mich. Ich habe schon in meine eigene Handfläche gepißt und aus Protest gegen die übliche Geschocktheit der Leute und meines Publikums daran geleckt. Das war nachts im Wald während eines positiven Trips auf mexikanischen Pilzen nahe eines Sees, der die Ahnen anruft und deren unsterbliches Wissen. Es ist ein bißchen ermüdend, hier andauernd unter Anfängern herumzufuhrwerken. Gib mir die alten Seelen, daß ich mich beheimatet fühle.